Wir alle tragen einen bunten Strauß an Erinnerungen mit uns, von den ersten Schwimmversuchen bis zu den Abenteuern von Pippi Langstrumpf und den Drei Fragezeichen. Ich erinnere mich noch lebhaft an das Gefühl, als ich meinen Ausweis für die Bücherei bekam – fast so aufregend wie ein Reisepass. Unsere Erinnerungen sind eine bunte Mischung aus gestern und vorgestern, von der ersten Flugreise bis zur Blinddarm-OP. Sie umfassen die merkwürdige Tante, das Nachbarsmädchen und zahlreiche Lieder, deren Text wir im Radio immer falsch verstanden haben. Unsere Erinnerungen sind so einzigartig wie wir selbst und prägen uns tiefgreifend.
Ich höre gern zu, wenn Menschen mir ihre Geschichte erzählen. Dann tauche ich in ihre Lebenswelt ein. Ich denke an die Frau, die sich durch eine Jugend voller Ablehnung und Kriminalität zu einem vertrauensvollem Menschen entwickelt hat. Oder an den Mann im fortgeschrittenen Alter, der sich als Fahrer für die Tafel zur Verfügung stellt. Durch das Erzählen werden ihre Schilderungen fast zu meinen eigenen Erlebnissen.
Dann gibt es Geschichten, die nicht uns selbst widerfahren sind, sondern die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Erzählungen, die älter sind als wir, von Schöpfung, Wundern, Freiheit, Güte und großen Ideen. Solche Geschichten brauchen eine Gemeinschaft, die sie am Leben hält, zum Beispiel die Kirchengemeinde. Die Überlieferung wird in vielen Bildern lebendig gehalten: Regenbogen, Sterne, Wind, Kinder, Brunnen und Brot, Milch und Honig. Tische, an denen Menschen aus allen Himmelsrichtungen sitzen. Der Stein, der weggerollt wird. Der neue Himmel und die neue Erde. Schwerter, die zu Pflugscharen werden. Das sind gute Worte, die wir uns selbst nicht sagen können, wie „Deine Sünden sind vergeben“ oder „Fürchte dich nicht!“
Ja, manchmal können Worte staubig sein. Die Worte der Tradition sind oft sperrig, verschroben, absurd, fremd – kein Wunder, sie sind uralt! Manche brauchen ihre Zeit, um verständlich zu werden. Sie sind fremd, und gerade deshalb unterbrechen sie unseren Alltag. Aber wenn die heiligen Worte nicht mehr zu uns sprechen, wird irgendwann auch der Traum von Frieden, Gerechtigkeit und Geborgenheit verschwinden.
Wir lernen aus Geschichten. Vorgelesen, überliefert, selbst erlebt, schildern sie ein anderes, ein richtig gutes Leben. Sie wecken Mut, verzaubern uns mit ihren Bildern. Mit alten, weisen Worten wird die Welt verständlicher und gibt uns selbst einen Platz im Größeren, im Heiligen. Geschichten lehren uns zu glauben, zu lieben, zu hoffen. Wir bereiten uns auf Wunder vor, und unsere Zaghaftigkeit wird bald vom Mut übertroffen. Wir werden satt, stark, friedlich, Mitglied einer verschworenen Bande.
in jeder Epoche werden neue Geschichten geboren, die es wert sind, erzählt zu werden. So wie die Kirche die alten Sinngeschichten bewahrt, so müssen wir die neuen schützen und weitergeben. Alle teilen sich das Herzstück der Menschlichkeit – das Streben nach Sinn, Verbundenheit und Hoffnung. Und während ich an den Tag zurückdenke, an dem ich meinen ersten Bibliotheksausweis in den Händen hielt, frage ich mich: Welche Geschichten werden wir weitererzählen? Welche neuen Abenteuer, Lebenslektionen und Weisheiten werden wir hinzufügen? Jedenfalls können die Drei Fragezeichen und Pippi Langstrumpf mit dem Barmherzigen Samariter und dem Verlorenen Sohn für unseren Herzensschatz gemeinsame Sache machen, ebenso jeder Gottesdienst und jedes „Der Herr segne dich und behüte dich“.