Ist der christliche Glaube nur etwas für extreme Zeiten? Für Kata­strophen und Glücks­phasen hält der Glaube offen­sichtlich passende religiöse Stimmungen bereit. Sie heißen Trost und Dank­barkeit. In der Not kann sich der religiöse Mensch mit Psalm 23 sagen: „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück“. In der Freude kann seine jubelnde Seele sich mit Psalm 103 zu den Worten auf­schwingen: „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“ Im Leid den Trost, im Glück die Dank­barkeit. Für die Extre­me ist gesorgt.

Was ist aber mit den vielen Zeiten ohne beson­dere Prägung? Die meisten Tage leben wir gefühls­mäßig so dahin, im Grunde zufrieden, wohl mal beun­ruhigt über dies und das, aber weder in großer Not noch in Euphorie und Über­schwang. Es ist der immer gleiche Alltags­trott zwischen Essen, Arbeit und Schlafen, bestehend aus Garten­arbeit und Kinder­betreuung, Auto­fahren und Putzen. Das Herz mag mal zufriedener und mal unzufriedener sein, der Körper mal erschöpfter und mal ausgeruhter – aber von den extremen, aufwüh­lenden Ereig­nissen, die uns quasi von selbst in eine religiöse Stimmung versetzen, sind wir meistens entfernt. So kommt es, dass auch bei gläubigen Menschen über weite Strecken ihres Alltags die Gottes­beziehung ein Schatten­dasein führt. Nicht aus bösem Willen, sondern einfach aus mangelnder Vorstellungskraft, wie mit „lang­weiligen Zeiten“ religiös ange­messen umzu­gehen sei. Ein Glaube, der seine Aussagen offenbar nur für Feste oder Krisen reserviert, muss zwischen­durch ungenutzt verkümmern. Es sei denn, wir finden heraus, wie eine religiöse Praxis aussehen könnte, die auch in der Wüste funktio­niert.

Wichtig ist zunächst die Fest­stellung: Gott kennt uns und macht keine Leistungs­schau aus unserem Gebets­leben. Wir müssen nichts Groß­artiges produzieren. Es ist grund­sätzlich okay, auch mal weniger zu beten oder nicht richtig bei der Sache zu sein. Wir dürfen aber mit dem Heiligen Geist rechnen, der es schafft, selbst in solchen sprach­losen Zeiten unser Beten oder Nicht-Beten für Gott zu übersetzen. Römer 8,26 sagt: „Wir wissen ja nicht einmal, was wir beten sollen. Und wir wissen auch nicht, wie wir unser Gebet in ange­messener Weise vor Gott bringen. Doch der Geist selbst tritt mit Flehen und Seufzen für uns ein. Dies geschieht in einer Weise, die nicht in Worte zu fassen ist.“ Soll heißen: Schon die Sehnsucht nach einem Gebet kann zum Gebet werden. Jedes Seufzen, dass die Langweiligkeit beklagt, und jedes ehrliche „Ach, Gott“ ist bereits ein Gebet, weil der heilige Geist es benutzen kann. Manchmal ist es gut, sich selbst sagen zu können: Ich finde gerade keine Worte. Aber ich seufze einmal kräftig vor Gott, und er wird es verstehen.

Zweitens hilft ein regel­mäßiges Ritual über öde Zeiten hinweg. Wer immer nur mit Gott spricht, „wenn ihm danach ist“, hat oft wenig Anlass. Anders der Mensch, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, jeden Tag eine bestimmte Zeit für Gott zu reser­vieren. Unsere katho­lischen Geschwister haben in dieser Hinsicht einen Vorteil: Sie haben Rituale gelernt (z. B. das Rosen­kranz­gebet), die sie unabhängig von Gefühlen zu festen Zeiten durch­führen können. Sie können sich dabei in Auswendig-­Gelerntes fallen lassen und müssen nicht kreativ sein. Geistliche Coaches betonen oft, dass Beten vor allem im „Machen“ besteht, nicht in der Origi­nalität. Davon können wir durchaus lernen. Neben dem Vater­unser, das immer zum Beten geeignet ist, bietet es sich vielleicht an, ein zweites Gebet auswendig zu lernen, das man an jedem Abend betet. Die Worte sollten so gefasst sein, dass viele Ereig­nisse des Tages hinein passen. Dann muss man nie überlegen, wie Nähe zu Gott heute herge­stellt werden könnte, sondern man „macht“ es einfach und spricht mit innerem Ernst die aus­wendig gelernten Worte. Eine solche regel­mäßige Übung übertrifft den Wert der Sponta­neität um ein Weites, denn sie sinkt tief ins Leben hinein. Sie trägt wie eine Hänge­matte durch die Dürrezeiten, bis irgendwann wieder der nächste Gipfel kommt.

Zwei Text­vorschläge möchte ich dafür machen, einen kürzeren und einen längeren. Auswendig­lernen ist unbedingt empfehlens­wert. Damit man auf die Eingangs­frage „Ist der christliche Glaube nur etwas für extreme Zeiten?“ antworten kann: Das war zwar bei mir einmal so, aber es hat sich geändert!

Herr,
in deine Hände lege ich meine unruhigen Gedanken,
meine wirren Gefühle, mein Leben.
In deinen Schoß lege ich meinen müden Kopf,
die Früchte meines Tuns, meine Sorgen.
Unter deinen Mantel lege ich meinen schutzlosen Leib,
meine verwundete Seele, meinen angefochtenen Geist.
In deine Hände lege ich meine Freunde, meine Feinde, mein Leben.
Amen.

(Anton Rotzetter)

Gott,
du allein weißt, was dieser Tag wert war.
Ich habe vieles getan und vieles versäumt.
Ich habe vieles versucht und vieles nicht vollendet.
Ich habe aus Unglauben gehandelt und entschieden
und bin den Menschen viel Liebe schuldig geblieben.

Ich möchte allen vergeben, die mir Unrecht getan haben.
Ich möchte von allem Hass, allem Neid
und aller Verachtung frei sein.
Vergib du auch mir alle meine Schuld.
Ob dieser Tag Frucht gebracht hat, weiß ich nicht.
Du allein siehst es.
Du allein kannst meine Mühe segnen.

Gott, ich kann dir nichts geben
zum Dank für diesen Tag,
als dass ich den kommenden aus deiner Hand nehme.
Gib mir einen neuen Tag und verlass mich nicht.
Ich danke dir in dieser Abendstunde,
dass du mich heute behütet hast.

Behüte alle, denen ich heute begegnet bin,
gib das Licht deiner Liebe allen, die ich liebhabe,
und allen, deren Last ich tragen soll.
Dein bin ich
im Licht des Tages und im Dunkel der Nacht,
bis du mich heimrufst
in deinen Frieden.
Amen.

(Jörg Zink)

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