Am nächsten Tag stand Johannes der Täufer wieder am gleichen Ort. Zwei seiner Jünger waren bei ihm. Da ging Jesus vorüber. Johannes blickte ihn an und sagte: „Seht, dieser ist das Lamm Gottes!“ Als die beiden Jünger das hörten, folgten sie Jesus. (Johannes 1,35–37)
Ich vermute, dass Pastorinnen und Pastoren diesen Abschnitt anders lesen als alle anderen. Hier wird der Moment beschrieben, in dem zwei Menschen hören, wie Johannes der Täufer von Jesus spricht, und sich spontan entschließen, Jesus zu folgen. Immer, wenn das Neue Testament eine solche Nachfolge-Entscheidung schildert, tut es das positiv, als Aufforderung zur Nachahmung. Ich habe den Verdacht, dass Pastorinnen und Pastoren das mit gemischten Gefühlen lesen. Zwar wendet sich das Neue Testament nicht direkt an meine Berufsgruppe. Aber es entsteht aus der Geschichte eine Anfrage an mich selbst, die ich nicht wegwischen kann.
Lehrer-Schüler-Verhältnisse waren in der klassischen Antike und im Judentum weit verbreitet. Lehrer, Philosophen und Rabbis scharten Jünger um sich und vermittelten ihnen ihre Lehre und Lebensweise. In diesem Fall steht Johannes der Täufer mit zweien seiner Jünger beisammen, da sieht er Jesus. Er hatte ihn kurz vorher selbst im Jordan getauft und dabei die Stimme Gottes gehört, die ihm sagte, Jesus sei Gottes Sohn. Nun war eine Lehrer-Schüler-Beziehung eigentlich keine Sache, die man leichtfertig wechselte oder beendete, schon gar nicht, wenn es um religiöse Dinge ging. Aber in dem Moment, wo Johannes so über Jesus schwärmt, verlassen seine Schüler ihn und folgen diesem neuen Lehrer.
Ich hätte wahrscheinlich gern einen tränenreichen Abschied gesehen. Ich hätte gern gesehen, dass die Jünger Johannes fragen, ob es ihm recht wäre, wenn sie sich ab jetzt Jesus anschließen. Ich hätte gut gefunden, dass sie sich die Zeit nehmen, ihm für seine Zeit und Mühe zu danken. Ehrlicherweise hätte ich es am besten gefunden, wenn sie gar nicht selbst auf die Idee gekommen wären zu gehen, sondern wenn Johannes der Täufer es ihnen vorgeschlagen hätte. Aber diesen Gefallen tut mir die Bibel nicht. Johannes weist auf Jesus, sie drehen sich um, und weg sind sie.
Vielleicht gab es ja sogar einen tränenreichen Abschied, der einfach nicht aufgezeichnet wurde, wer weiß! Auf jeden Fall lautet die Anfrage: Sören, was wäre, wenn jemand zum geistlichen Wachstum gar nicht dich bräuchte?
Ich habe es erlebt. Einige jüngere Menschen aus unserer Gemeinde, die mit Ernst Christen sein möchten, fühlen sich zum Beispiel hingezogen zu anderen Gemeinden aus dem freikirchlichen Spektrum. Sie sagen mir: Eigentlich gefällt es mir in der Sülzer Kirche gut, auch theologisch und mit Jugendarbeit und Glaubenskursen und so, aber es ist einfach total toll, dass in der anderen Gemeinde so viele junge Leute sind; da fühle ich mich im Moment am richtigen Platz. Oder Menschen, die ins Gebiet unserer Gemeinde zuziehen und trotzdem die Verbindungen zu ihrer Herkunftskirchengemeinde aufrecht erhalten. Oder andere, die mir vorschwärmen von Pastorin X oder Prediger Y, bei denen sie „Schwarzbrot des Glaubens“ und echte Begeisterung gefunden haben.
In solchen Momenten muss ich an Johannes den Täufer denken. Er war innerlich bereit, auf die Verkündigung und den Dienst eines anderen hinzuweisen und sogar für ihn zu werben. Am allerwichtigsten war für ihn, dass seine Anhänger das bekamen, was sie brauchten. Über Jesus sagt er an anderer Stelle in glasklarer Einsicht: „Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen.“ (Johannes 3,30)
Die Frage muss beantwortet werden: Was ist, wenn jemand zum geistlichen Wachstum nicht mich braucht? Es sollte mir als Pastor um nichts anderes gehen als darum, dass Menschen Gottes Nähe erfahren. Manchmal erfordert die nächste Stufe im geistlichen Reifeprozess Fachwissen oder Gaben oder Einsichten, die ich einfach nicht habe. Kann ich in solchen Fällen die Freiheit aufbringen, Menschen leichten Herzens gehen zu lassen, um sich das, was sie brauchen, anderswo zu holen? Bin ich bereit abzunehmen, damit Jesus wachsen kann? Ob ich will oder nicht, es gibt keinen anderen Weg. Dass Jesus wächst, ist die größte Hoffnung der Welt. Pfarrbezirke, Gemeindegrenzen, Konfessionsschranken oder Personenkult haben damit rein gar nichts zu tun.