Vor etlichen Jahren hat mir eine 85-jährige Frau bei einem Geburtstagsbesuch von ihrem Kummer erzählt. Beim Umzug von ihrem ehemaligen Haus in das Haus ihrer Tochter sei ihr geliebtes Gebetbuch verloren gegangen. Sie habe täglich darin gelesen und viel Trost und Kraft daraus geschöpft. In dieser letzten Phase ihres Lebens sei sie jetzt ohne „geistliche Speise“. Es flossen Tränen. Ich wollte der Frau gern helfen und fragte sie, ob sie noch wisse, wie das Buch heiße. Sie antwortete: „Starks Gebetbuch, mehr weiß ich nicht.“ Ich erkundigte mich, ob ich ihr ein neues Buch mit täglichen Andachten schenken dürfe, aber sie meinte nur betrübt: „Ach, das ist ja nicht dasselbe.“ Später erzählte mir die Tochter an der Haustür, dass sie gar nicht versteht, warum ihre Mutter an diesem alten zerfledderten Schinken so gehangen habe. Sie vermute, dass sie selbst oder ihr Mann das „olle Ding“ beim Umzug einfach weggeschmissen hätten. Sei doch albern, so ein Getue.
Zuhause befragte ich das Internet und erfuhr, dass Starks Gebetbuch eigentlich „Tägliches Handbuch in guten und bösen Tagen“ hieß, von dem Frankfurter Pfarrer Johann Friedrich Stark stammte und seit seinem Erscheinen im Jahr 1728 unzählige Neuauflagen erlebt hatte. Es war über Jahrhunderte „das“ evangelische Andachtsbuch gewesen, ein zeitloser Bestseller, der sich besonders in frommen Kreisen großer Beliebtheit erfreute. Zum Zeitpunkt meiner Recherche gab es nur einen schmalen Auszug davon in moderner Aufmachung zu kaufen oder aber ein vielfach beflecktes antiquiertes Exemplar. Beides erschien mir damals irgendwie unbefriedigend. Ich ging, so meinte ich, immerhin pietätvoller an die Angelegenheit heran als die Tochter der alten Frau. Aber auch ich hatte wohl die Bedeutung des Werkes noch nicht richtig begriffen.
Jedenfalls entschied ich mich für den Kauf eines anderen Buches, nämlich eines Bändchens mit täglichen Andachten von Jörg Zink, den ich sehr schätze. Ich packte es nett ein und brachte es der alten Dame vorbei. Ich erinnere mich, dass sie zwar sehr höflich und freundlich auf mein Geschenk reagierte, aber ich doch den Eindruck gewann, dass ich am eigentlichen Bedürfnis vorbei geschenkt hatte. Es durfte, es sollte für sie nur Starks Gebetbuch sein, das original „Starkenbuch“.
Ich ertappte mich bei einem Gefühl des Unwillens: Meine Güte, da gebe ich mir solche Mühe, und dann das? War das nicht bisschen sehr pingelig und stur von ihr? Ich hatte ja keine Ahnung.
Manchmal bekomme ich religiöse Bücher geschenkt, die von einem verstorbenen Menschen stammen und für die Angehörigen ohne Bedeutung sind. „Hier, vielleicht haben Sie als Pastor ja eine Verwendung dafür, sonst dürfen Sie sie gern wegwerfen.“ Auf diese Weise habe ich eine recht ansehnliche Sammlung ausrangierter Gesangbücher und Bibeln zusammen bekommen und, ich gestehe es, mich hin und wieder auch mal von den wirklich nicht zu gebrauchenden Exemplaren per Mülltonne wieder getrennt.
Eines Tages bekam ich in einem solchen Stapel von Sie-können-das-bestimmt-gebrauchen-Literatur tatsächlich „Starks Gebetbuch“. Es war ungefähr aus dem Jahr 1880, stellte die 167. Auflage dar, Halbleder, große alte Frakturschrift, Rücken gebrochen, Seiten vergilbt und vom vielen Lesen an den Rändern fleckig und eingerissen, laut handschriftlichen Namen im Deckel von mindestens drei Generationen aktiv benutzt. Die erwähnte alte Dame war mittlerweile gestorben, ohne Starks Gebetbuch. Und ich hatte es nun hier vor mir. Ich empfand eine Art Schuld und den Wunsch nach Wiedergutmachung und fing an, es zu lesen. Zum Glück habe ich kein Problem mit der alten deutschen Druckschrift.
Was ich las, haute mich um. Es wirkte so unmittelbar auf mein Gemüt wie wenig Lektüre zuvor. Starks „Tägliches Handbuch“ liegt längst auf meinem Nachttisch, ich nehme es immer wieder zur Hand. Ich habe den Rücken geklebt und die eingerissenen Seiten vorsichtig verstärkt. Ich möchte, dass es noch lange hält.
Was ist besonders an diesem Werk? Ganz klar: Ich würde es niemandem als Einstieg ins Christentum empfehlen, denn es ist wirklich alt, in Sprache und Vorstellungswelt heillos von gestern. Gerade darin liegt für mich als langjährigem Christen aber auch der Reiz und der Wert. Johann Friedrich Stark formuliert seine kurzen Betrachtungen zu Bibelversen und vor allem seine anschließenden Gebete so, als ob die oder der Lesende gerade selbst betet: ausschließlich in der Ich-Form, mit sehr vielen biblischen Anspielungen in den Formulierungen (ein Genuss, wenn man sie kennt), durchzogen von einem warmen Gefühl der Vertrautheit zu einer Form des Christentums, die unserer Zeit längst fremd geworden ist. Für mich ist das betende Lesen in diesem Buch wie ein Eintauchen in die Kindheit. Ich bin zwar im 20. Jahrhundert aufgewachsen, die Welt von 1728 war niemals meine Welt. Aber die Kindheit, in die mich das Buch zurückführt, ist eine universelle. Es ist eine Welt, die immer schon von gestern war; so ähnlich wie die Welt von „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“, „Der Herr der Ringe“ oder „Game of Thrones“. Man muss bereit sein, in diese Vergangenheit einzutauchen, dann ist sie plötzlich Gegenwart. Ich begebe mich gern in dieses geschlossene Weltbild des Glaubens, das nicht die Absicht hat, sich vor irgendjemandem zu rechtfertigen. Hier wird nicht argumentiert, hier wird gebetet. Gerade das „Naive“ und Unmittelbare daran empfinde ich als einladend.
Bei Stark ist viel Gefühl im Spiel, die Sprache ist manchmal pietistisch-süßlich, ich kann mir ausmalen, wie ein kritischer Geist die Augenbrauen hochzieht bei manchen Formulierungen. Schreiben würde ich ein Buch wie dieses niemals. Zum einen könnte ich es nicht, zum andern würde es auf meine Zeitgenossen so wenig elektrisierend wirken wie ein versiegelter Brief per Postkutsche. Trotzdem: Mich erreicht die Wärme, das Zutrauen, der Trost, der aus jeder Zeile spricht. Im Zusammenhang dieser Reise in die Vergangenheit lasse ich mir sogar gefallen, von Stark Krankheiten gelegentlich als Strafe vor Augen geführt zu bekommen, die mich zur Buße „auf mein Krankenlager“ werfen. Denn gleichzeitig bewirken seine Gebete in mir so viel Liebe und Vertrauen zu einem Gott, der mein Bestes will, dass sich mitten im Leid automatisch Geborgenheit einstellt.
Die alte Dame hat das Buch als Schatz geliebt und doch verloren. Ich habe es nie gesucht und darf es statt ihrer heute besitzen. Verkehrte Welt.
Und wie klingen die Gebete von Stark nun? Das will ich gern demonstrieren. Vielleicht entdecken Sie darin selbst etwas Anziehendes, etwas heimatlich Vertrautes – dann finden Sie in Internet-Antiquariaten sicher auch für sich selbst ein fleckiges, ungekürztes Exemplar für den Nachttisch. Wenn es Ihnen dagegen fremd oder sogar befremdlich erscheint, dann freuen Sie sich, dass die Zeit weitergegangen ist und es eine Vielzahl zeitgemäßer, sehr guter Gebetbücher gibt.
In der Rubrik „Aufmunterungen, Gebete und Gesänge für Kranke“ findet sich, leicht gekürzt, folgendes Gebet:
„O du heiliger und weiser Gott, ich sehe jetzt deinen heiligen Rat und Willen an mir, dass ich die Zeit und die Wochen, und so lange es dir gefällt, auf meinem Bette zubringen soll. Wohlan, ich widerspreche deinem heiligen Willen nicht; ich will nicht gegen dich murren, sondern ich sage: Siehe, hier bin ich; der Herr mach’s mit mir, wie es ihm wohlgefällt; sollte ich den Kelch nicht trinken, den mir mein Vater gegeben hat? Du bist mein Gott und Vater von Jugend auf gewesen, so wirst du es in meiner Krankheit auch bleiben.
Soll ich lange so liegen und leiden, mein Gott, mach’s doch nicht zu lange, sondern gib mir bisweilen eine Erquickungsstunde, in welcher du mich von meinen Schmerzen befreiest und mein Leiden linderst. Soll ich viel leiden, so gib mir auch viel Kräfte; du weißt, wie schwach ich bin und wie ich nicht viel mehr aushalten kann; du weißt wohl, was ich tragen kann, wie’s um mein Leben stehe, ich bin ja weder Stahl noch Stein.
Ach, mache es mit mir, wie eine Mutter mit ihrem schwachen Kinde; hilf mir tragen, ja, trage mich und nimm mich in deinen Arm und in deinen Schoß. Soll mein Leiden schwerer werden, als es ist, so weiche du nur nicht mit deiner Gnadenhilfe und deinem Beistande von mir; soll ich noch mehr betrübte Nächte haben, so lass mich nur diesen Trost empfinden, dass du dennoch mein Vater und mein Freund seiest.
Ich weiß wohl, wenn du deinen Kindern Leiden schickst, so willst du sie nicht verderben, sondern zu dir ziehen. Ob du mich gleich so leiden lässest, so will ich deswegen nicht von dir fliehen, mein Hirte; führst du mich die Dornenwege, die meinen Leib und meine Seele verwunden, so folge ich dir willig nach. Hat das Haupt Dornen getragen, so können die Glieder nicht auf Rosen gehen. Ich habe dich geliebt, da du mir Gesundheit gabst und du es mir wohlergehen ließest; darum will ich dich auch in Krankheiten, in Leiden und Schmerzen lieben; ich weiß, du kannst mir helfen und wirst mir helfen. Amen.“